Klein Russland auf dem Dreesch
Journalistin Elena Korkina aus Sibirien ist in Schwerin zu Gast und sprach mit Landsleuten, die hier ein neues Zuhause gefunden haben
„Halte dich bloß vom Problemviertel fern!“ Das ist der erste Tipp, den man in Schwerin bekommt, wenn vom Areal rund um den Berliner Platz die Rede ist. „Das ist Quatsch“, sagt die Gründerin des Deutsch-Russischen Kulturzentrums „Kontakt“, Elisabeth Karaseva. Aber sie berichtet im gleichen Atemzug, dass ihre Tochter dagegen war, die Enkelin zu den Großeltern auf den Dreesch zu bringen: Hier gäbe es zu viele Asoziale. Das betreffe nicht nur die Russen, aber im „russischen Ghetto“ konzentriere sich der größte Teil der russischen Gemeinde, die eine Stärke von mehreren tausend Mitgliedern zähle.
„Es gibt nur wenig Russen hier“, korrigiert man in der russischen Kirche, deren Kirchgänger zumeist orthodoxe Juden sind. Solche Unterscheidungen unter den Russischsprachigen sind hier ausgeprägt, besonders im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise. „Der beste Freund und der schlimmste Feind sind nur ein Gespräch über die Ukraine voneinander entfernt“, sagt Alla, die Mitbesitzerin des Telekommunikationszentrum „Teremok“, wo vielleicht auch deshalb politische Diskussionen tabu sind. Elisabeth Karaseva kann aber nicht verstehen, wie man darüber schweigen kann. Sie organisiert deshalb für den 1. November in Schwerin die Konferenz „Image Russlands – Mythen und Realität“. Für sie ist es eine prinzipielle Frage, darüber zu diskutieren. Und gerne mit den Deutschen.
Allerdings ist Elisabeth Karaseva eher eine Ausnahme. Die meisten vermeiden es, strittige Themen offen zu besprechen. Man hat schließlich die Heimat verlassen, um in Ruhe zu leben. Außerdem kann es riskant werden, sich anzulegen. Dafür nutzt man höchstens die wenigen Sitzbänke im Freien. Auf denen führen Rentner und Arbeitslose ihre hitzigen Diskussionen – was eine Beerdigung kostet, was in der Ukraine wirklich passiert oder auch, was man mit der Lenin-Statue an der Plater Straße machen soll. „Lenin weg? Na gut. Niemand wird protestieren“, sagen die Neu-Schweriner mit russischen Wurzeln schulterzuckend. Dabei sind fast alle dafür, ihn da zu lassen, wo er steht. „Das ist die Geschichte. Egal ob sie gut oder schlecht ist“, sagt die Besitzerin des russischen Geschäftes „Berejoska“, Tatjana. „Darüber hinaus bin ich mit dem Standpunkt der Oberbürgermeisterin völlig einverstanden. Die Plastik abzubauen, heißt das Geld auf die Straße zu werfen“, sagt Alla. Außerdem sei das Denkmal bei Touristen beliebt.
Auf die Frage, wie es zwischen Russen und Deutschen in Schwerin funktioniere, antwortet man etwas vorsichtig: „Normal“. Elisabeth Karaseva, die vor 20 Jahren aus dem russischen Tschetschenien vor dem Krieg geflohen ist, sagt, dass das Verhältnis zu den Russen heute viel freundlicher sei. Auch deutsche Kunden besuchten gerne russische Geschäfte und versuchten dabei, die vergessenen Sprachkenntnisse aus der Schule aufzufrischen. Eine vielleicht früher da gewesene Angestrengtheit zwischen den Schwerinern beider Nationen sei auch deshalb nahezu verschwunden, da der Massenzuzug der Russlanddeutschen und jüdischen Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion vorbei ist. Die meisten Russischsprachigen sind ihrerseits dankbar, dass sie hierher kommen durften.
Nach Einschätzung von Alla aus dem „Teremok“, fühlen sich nur sieben bis acht Prozent der in Schwerin gebliebenen Russischsprachigen hier wie zu Hause. Sie sind in deutschen Unternehmen beschäftigt, unterhalten sich meist mit Deutschen und würden nicht gern ihre Herkunft zur Schau tragen. Andere Mitglieder der Gemeinde halten zusammen. Sie lassen sich beim russischen Frisör die Haare schneiden, feiern Geburtstage im russischen Café, sehen im Fernsehen vor allem russische Sendungen. Die Mentalität der Deutschen bleibt für sie fremd. Trotzdem will fast niemand heimkehren.